Stillstand und Lockdown

(Georg Fiala, 3. April 2020)

Ein winziger unscheinbarer DNA Strang, dessen einzige Funktion es ist, sich durch Reduplikation zu vermehren, legt die ganze Welt in Fesseln. Die uns bekannte, die uns vertraute Welt ändert soeben ihr Gesicht. Notstand allerorten. Kaum ein Lebensbaustein bleibt in diesem Augenblick unverändert…

Das Coronavirus verändert vieles.

Auch frauJEDERmann ist davon betroffen. Die Nerven liegen blank. Aber was könnte uns die aktuelle Krise mit dem Blick auf unser Projekt sagen? Was können andererseits wir mit unserem aktuellen „Theaterblick“ der Welt im Krisenmodus sagen? Erkenntnis geschieht stets im Betrachten und der daraus hervorgerufenen Wahrnehmung. Und hier sei gefragt: Geht es jedem Einzelnen von uns in dieser allmächtigen Krise nicht ein wenig so wie der frauJEDERmann als Hauptfigur unseres Theaterstücks? Wurde nicht auch uns vor wenigen Tagen das gewohnte Leben fast aus heiterem Himmel auf den Kopf gestellt? Nie hätten wir vorher allen Ernstes mit dieser Entwicklung gerechnet. Ganz wie für frauJEDERmann, als sich der TOD ohne vorherige „Anzeig“ zu Wort meldet.
Der Tod ist in diesem Moment in vielen Bildern und noch mehr Nachrichten und Statistiken mitten unter uns getreten.

"Ich will die ganze Welt abrennen
Und sie heimsuchen Gross und Klein,
Die dein Gesetz nit woll'n erkennen
Und unter das Vieh gefallen sein
Der sein Herz hat auf irdisch Gut geworfen,
Den will ich mit einem Streich treffen,
Dass seine Augen brechen
Und er nit findt die Himmelspforten",

sagt der vom POSTBOTEN beförderte TODesbote.

Ist es daher in dieser Situation weit gefehlt, an die Rolle des TODES aus unserem Stück zu denken? Der Gedanke drängt sich förmlich auf. Schliesslich gilt es als gesichert, dass der Coronavirus, der seit den 60er Jahren des 20. Jahrhundert bereits als Kandidat zur Urheberschaft von Pandemien zählt. Der in der aktuellen Mutation, wie in anderen Mutationen zuvor, sein gefährliches Potential entfaltet hat. „Ich komm halt schnell“.

Georg Fiala spielt den POSTBOTEN, der von GOTT als TOD berufen wird.

Noch deutlicher: wie wird man bei einer zeitnahen Aufführung beim TOD nicht an den Virus denken können? Ist die Betrachtung des Stücks für Publikum wie Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne eine andere als noch vor der Zeit des Virus? Auch dort geht es um Leben und Tod. Noch sind wir mitten in der Krise und können deren Ende mit allen Auswirkungen nur sehr schwer einschätzen. Bis September ist es noch weit und doch uns „allzu nah“.

In welcher Szene des Stücks befinden wir uns in unserer realen Welt? Vermutlich in der zentralen Sequenz, in der Szene TISCHGESELLSCHAFT. Wir, die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft, die Experten, die Krankenversorgung – jeder Einzelne von uns ist paradoxerweise um diesen Tisch versammelt und doch auch wiederum nicht. Das Szenario wird täglich neu verhandelt, neu bewertet. Viele neue Ideen, gute wie schlechte, angebrachte und weniger angebrachte, poppen auf in unsere alles umspannende Medienwelt.

Die letzte Probe der TISCHGESELLSCHAFT vor den Lockdown in der Rodauner Werkerei.

Wie wütet der TOD in diesem Spiel? Wie ist es um des TEUFELs Beitrag bestellt? Wer von uns spielt die ARME NACHBARIN? Wer gerät am Ende in den Schuldturm? Wer bezahlt mit seinem Leben? An welchem Tisch sitzen die COUSINEN, welchen Rat erteilt der GESELL? Und MAMMON? Wird es, wie stets im Ausgang von Krisen, auch Nutzniesser geben, die von der Krise der anderen profitieren? Welche Rolle spielt der BUHLER? Was macht FRAU JEDERMANN, die Hugo von Hofmannsthal in Schüttelreimen scharf in den Blick nimmt? Die bis hierhin das Hohelied des Erfolgs singt und alle anderen in angemessener Sippenhaftung wähnt. Was macht das alles mit ihr?

Probe der TISCHGESELLSCHAFT in der Rodauner Werkerei: Noch ahnt hier niemand etwas gut gelaunt von dem nahenden TOD, der bereits am Bühnenrand wartet.

Selbst ein Allmächtiger liesse sich auf dieser Bühne der Allegorien ausmachen. Wer schwelgt derzeit in absoluter Handlungsvollmacht? Unser Blick fällt auf den Staat und seine Repräsentanten. Ausgestattet mit fast uneingeschränkter Machtfülle. Er teilt zu. Er schöpft aus der Fülle. Er steht als Garant dafür, dass wir gemeinsam gut durch diese Zeit kommen. Ist er letzten Endes ein barmherziger, milder, liebender Gott? Ein strafender? Wir dürften es in Bälde erleben.

Es ist kein Spiel mehr. „Nun ist Geselligkeit am End“. Wer jetzt Angst verspürt, verspürt diese Angst zu Recht. Wer jetzt hamstert, hamstert ebenso zu Recht. Wer jetzt allein ist, muss es länger wohl noch bleiben. Wenn dieser Albtraum zu Ende ist, wird in der bekannten Welt wieder einmal alles anders sein als zuvor.

Und doch stimmt dieser Blick nicht uneingeschränkt!

Recht haben wir alle. Selbst – welch ein Glück! – diejenigen unter uns, die weiterhin davon ausgehen, dass sich unser Schicksal alsbald wieder zum Guten wandelt und sich eben doch nicht erschöpft. Diejenigen, die in dieser spektakulären Zeit den Tod nicht scheuen. FRAU JEDERMANN gibt den Ton an: „Was bist Du für ein Bot?… Ausgesandt nach mir? Dem möchte wohl so sein. Ei ja!“ Sie bleibt widerständig. Und kreativ im Verhandeln. „Nur diese Nacht bis Sonnenaufgehn. Dass ich mit Reu mög in mich gehn…“

Roland Stumpf bei Probenarbeiten für frauJEDERmann.

Roland Stumpf als TOD bei einer Probe in der Rodauner Werkerei noch vor dem Lockdown.

Denn der nahe Tod – schauen wir, ein jeder in seiner partikularen Rationalität, doch genau hin –  wird für die überwiegende Mehrheit Aufschub gewähren. Noch sind wir nicht so weit. Noch müssen wir, nein, dürfen und sollten wir weiterhin davon träumen, ein Stück Theater auf die Bühne zu zaubern, das aus unserer Geselligkeit heraus, mit unserem Wohlgefallen füreinander und in Anbetracht unseres Lebensmuts auch diese Krise meistern wird. Nicht der Tod wird das Ende dominieren, sondern der Wille und die Kraft zum Leben. Nach der Krise dürfen wir wieder feiern. Sammeln wir alle Kräfte dafür!

Wünschen wir uns, dass wir bald wieder zusammen kommen können und dass uns – jedem von uns – Gesundheit weiterhin vergönnt bleibt!
Der TOD darf ruhig warten – „Bleib du nur stehn ein Weilchen hier“, selbst wenn er uns beständig hinterher rufen möchte: „Bin immer da, Euch allzu nah“. Wir hören ihn, aber wir leben. Könnte nicht dies „die Lehr vom Inhalt des kostbaren Spiels“ sein, die uns der POSTBOTE in seinem Brief frei Haus zustellt? 

„Dahinter aber liegt noch viel!“