Tod: „Dahinter aber liegt noch viel“

(Georg Fiala, 6. März 2020)

Es ist schon absurd. Da hat FRAU JEDERMANN mit all ihrer Energie ein wohlfeiles Leben geführt, in einer Zeit, die geprägt ist von den Früchten eines langen relativen Friedens und einem damit einhergehenden industriellen Wohlstand. Sie hat den ihren Erfolg begleitenden Absturz ehemals Gleichgestellter ins Lumpenproletariat zu einer Ideologie von der Unschuld des Geldes umdeuten gelernt, den eigenen Wohlstand, erwachsen aus erfolgreicher Spekulation, als Resultat ihrer eigenen Tüchtigkeit sehen wollen. Aber sie treibt, und sie spürt es überdeutlich, ein schlechtes Gewissen aus der realen Welt heraus, hinein in die Phantasien eines romantischen Lustgartens, hinein in die Arme ewig jugendlicher Liebe und ausschweifende Geselligkeit.

Roland Stumpf als TOD, der die Tafel der Tischgesellschaft abräumt. Probenarbeiten im Februar 2020 in der Rodauner Werkerei. Der TOD wird anfangs in seiner Rolle nicht ernst genommen und erkannt. Das macht ihn wütend.

Und jetzt kommt ein BOTE daher und will sie aus diesem Paradies vertreiben. Fordert gar Rechenschaft von ihr und droht mit dem Tod! Was für eine Anmaßung! Sie begegnet dieser unheilvollen Botschaft mit aller Hingabe. Abwehrend, trotzig, mit Mut und Verhandlungsgeschick bietet sie alles auf, was greifbar ist. 

Sie wird scheitern. Der Widerstand ihrer Seele gegen die Kränkung der Vergänglichkeit ist zwar nicht ganz so libidinös getrieben wie die eines Don Giovanni. Aber ebenso resolut und aufbegehrend. Wie die Zusammenhänge wirklich sind, entzieht sich vordergründig dem (Selbst)Bewusstsein, wirkt dennoch stetig und nach – „dahinter aber liegt noch viel“. Jedenfalls gelingt es FRAU JEDERMANN in aller Bedrängnis ihr Herz zu öffnen und den Zugang zu ihren wahren Gefühlen abseits aller Ideologien, ihrem Unbewussten freizulegen. 

FRAU JEDERMANN in der Doppelbesetzung mit Stephanie Pauly und Christina Kohlross stehen Roland Stumpf als TOD gegenüber. „Ganz und gar bin ich unbereit“, sagt FRAU JEDERMANN.

FRAU JEDERMANN entdeckt dabei eine neue Welt, von der sie bis dahin zwar ahnte, dass es die auch irgendwie geben muss, die sie aufgrund anderer, scheinbar viel wichtiger „Beschäftigungen“ bei sich selbst nie zulassen wollte. Es ist die Welt des Gemeinsamen, der Empathie, wahrer und unverstellter Liebe zum Nächsten, zum Mitmenschen. Um diese neue Welt sich selbst zu erschließen war es notwendig aus ihrer alten Welt quasi „wegzusterben“, damit ihre Aufmerksamkeit sich einer gewandelten Wahrnehmung zuwenden kann.

Es ist diese unbändige, thymotische Kraft und die Unbestechlichkeit im Wesen FRAU JEDERMANN, die eine heilbringende Botschaft für den Betrachter des Schauspiels sein könnte. Im Scheitern, im Sterben ihrer „alten“ Natur wird ein neues Selbst geboren, in dem GLAUBE an eine ausgewogene Zukunft und WERKE zum Wohle aller eine Heimat finden können. So, denke ich, wäre das Sterben FRAU JEDERMANNS erfahrbar als Ja zum Leben. Soll sie in unserer Interpretation durch einen TODder als Henker auftritt gerichtet werden? Statt mögliches neues Leben doch nur Tod?

Georg Fiala als TOD und Teil des Regieteams.

Wo bliebe bei unserem Spiel die Hoffnung auf das Unerwartbare? In unserer Interpretation spiegeln wir unserem Publikum nur die Sinnlosigkeit allen menschlichen Bemühens vor Augen; so jedenfalls könnte der Ausgang unseres Stücks verstanden werden. Die Höhen des künstlerischen Schaffens Hofmannsthals, von dem Denken seiner Zeit noch getragen, werden hier der Endgültigkeit menschlicher Erkenntnis aufgeopfert. So wie es – historisch betrachtet – stets geschieht, wenn sich der Mensch als Zeitgeber von Leben und Tod aufschwingt. Es ist wahrlich ein himmelweiter Unterschied auf der Bühne zwischen der Androhung des Todes und dessen Vollzug.

FRAU JEDERMANN Christina Kohlross und TOD Roland Stumpf proben die erste Begegnung zwischen den beiden Figuren. Bei frauJEDERmann wandelt sich der (POST)BOTE dem Auftrag GOTTES folgend zum TOD(ESBOTEN). Eine Rolle die er erst finden, entdecken und ausfüllen muss.

Ein Todesstoss auf der Bühne stünde für diese Symbolik. Im Zentrum abendländischer Kultur sollten als Leidtragende gerade wir sensibilisiert sein, nach all den wirkmächtigen Opfern vergangener Jahrhunderte.
Geben wir unserem Stück doch wieder etwas Luft zum Atmen. Statt (hin)gerichtet zu werden auf dem Leichenwagerl menschlichen Maßes, sollte frauJEDERmann für Ihren Mut und ihrer Hingabe drohender Endlichkeit Widerstand zu bieten, belohnt werden und Himmelspforten gerade für Lebenskraft wie der ihren offen stehen. 
Es sind in der Tat nur wenige Schritte bis zum Tempel Gottes. Auch auf unserer Bühne. Ohne Opfer allerdings findet nichts und niemand Zugang – „und sie nit finden die Himmelspforten – es sei denn‘?“ Die Antwort auf diese Frage Gottes kann nur lauten: in einem persönlichen Opfer, wie es uns bereits seit der Zeitenwende als ewiger Spiegel vorgehalten wird. Aber wer von UNS wäre schon bereit dort hinein zu blicken, wenn nicht ausgerechnet FRAU JEDERMANN?
Nichts anderes kann ein wirklich barmherziger Gott wollen. Oder es gibt ihn tatsächlich nicht. Quod erat demonstrandum. Mit welcher Absicht sollte GOTT den Menschen sonst Todesengel zur Seite stellen wollen?

Es braucht lediglich wenige dramaturgische Änderungen, um die Hoffnung auf eine Stunde Aufschub nicht sterben zu lassen. Es wäre doch im Stück bereits alles notwendige gesagt; soll doch jeder einzelne Zuschauer nach Hause gehen und für sich das passende Ende finden…